Samstag, 1. 6. 2013
Es hat zwar tagelang geregnet, so dass wir mit einem Hochwasser rechnen. Aber erst nach unserer erfolglosen Fahrt nach Bad Sulza über Freyburg und Naumburg begreife ich den Ernst der Lage. Wir schaffen gerade noch die Rückfahrt nach Halle. Wären wir gestern gefahren, säßen wir möglicherweise heute in Bad Sulza fest.
Sonntag, 2. 6. 2013
Nachdem am Vorabend noch der Gutspark mit Gummistiefeln passierbar war, ist früh der Park vollgelaufen, ebenso die Birkenallee und die Spielplätze. Die Zufahrtsstraße ist noch frei und wird ausgiebig von den "Hochwassertouristen" zum Gucken genutzt.Wir fahren mit dem Boot zum Peißnitzhaus und sind guter Hoffnung, dass alles nicht so schlimm wird. Abends ist der HSV-Spielplatz vollgelaufen, die Straße beginnt zu überfluten.
Montag, 3. 6. 2013
Die Halle-Saale-Schleife ist unter Wasser, Torsten und Hannes bleiben zu Hause. Ich werde rausgepaddelt, alle Patienten kommen pünktlich in die Praxis, aber ich bin unruhig und will schnell nach Hause, bevor es nicht mehr geht. Prognose: 6,50 m. Ab 6,30 m herrscht Alarmstufe 4. Ich rufe Hannes an, dass ich am Gimritzer Damm abgeholt werden möchte, aber die DLRG lässt Torsten mit dem Kanadier nicht mehr fahren. Stattdessen werde ich von ihnen mit dem Schlauchboot bis zur Gutsbrücke gebracht.Von dort kann ich mit Gummistiefeln durch bis zum Tor. Hannes möchte raus, er kann bei einem Freund unterkommen. Er und Uli packen ihre Sachen, ich bringe sie zum DLRG-Boot. Es geht eben gerade noch mit Gummistiefeln. Mein Keller beginnt vollzulaufen, der Wasserstand übersteigt den Höchststand vom Januar 2011 (damals 6,92 m). Bis zum Abend sollen es 7,15 m sein, dann soll der Strom abgeschaltet werden. Ich lade alle Akkus auf.
Die Männer tragen Waschmaschine und Kühltruhe aus den Keller, den Saunaofen kriegen wir nicht vom Strom ab. Torsten schraubt ihn von der Wand und wir legen ihn auf die höchste Bank. Dann schalten wir den Kellerstrom ab, damit auch den Router fürs Internet. Telefon geht noch. In der Stadt wurde ab 7,00 m der Katastrophenfall ausgerufen, der Gimritzer Damm, der schon am Nachmittag fast überspült war, wird mit Sandsäcken erhöht. Die DLRG fährt weiter evakuierungswillige Leute raus, auch ein Kamerateam, das noch am Peißnitzhaus war. Prognose bei ihrer letzten Fahrt: 7,50 m bis zum nächsten Morgen. Wir wollen es nicht glauben. Spät abends holt Heinrich noch Katrin und dann Roula mit dem Boot vom Gimritzer Damm ab. Hannes ist bei einem Freund, dem Sohn seines Fußballtrainers, untergekommen.
Dienstag, 4. 6. 2013
Das Wasser steht bei 7,60 m, Tendenz steigend. Der Gimritzer Damm hält. Noch haben wir Wasser und Strom. Mittags fährt die DLRG weitere Einwohner raus, die bis jetzt geblieben sind: viele Familien mit kleinen Kindern, ein älteres Ehepaar und ein paar Leute aus den Häusern außerhalb des eigentlichen Guts samt Meerschweinchen und Katzen. Auch Katrin fährt mit raus. Wir anderen füllen Töpfe, Schüsseln und Badewannen mit Wasser, dann werden Strom und Wasser abgestellt. 29 Leute sind noch da, darunter 2 Großeltern-Paare, 2 Jugendliche und der kleine 3 jährige Tilman. Das "Survival-Camp Gut Gimritz" beginnt. Ab jetzt laufen alle Aktionen gemeinsam. Grillkohle und Feuerholz werden zusammengetragen, unsere Mittelalter-Ausrüstung mit Kochkesseln und Dreibein leistet uns gute Dienste. Vorräte werden gesichtet, das am schnellsten verderbliche wird zu eine Hühnchen-Gemüse-Reissuppe verarbeitet. Vor dem Abwaschwasser wird Kaffee- und Teewasser für alle gekocht. Abends sitzen wir zusammen um die Feuerstelle in der bisherigen Sandkiste (der Sand ist längst in diversen Sandsäcken), in den Häusern brennen Laternen und Windlichter. Zwischendurch immer wieder Kontrollgänge, Sicherung von Sachen aus kellern, Nachrichten aus dem Autoradio. Das Wasser steigt weiter, der Gimritzer Damm wird gehalten, aber in der Stadt herrscht Chaos. Neben der Talstraße sind auch Ankerstraße udn Robert-Franz-Ring im Wasser, Glauchaer Platz und Franckeplatz werden gesperrt, es fährt zwischen Halle und Halle-Neustadt keine Straßenbahn. Die Hochstraße ist wegen Stau unpassierbar und wird zugunsten der Rettungskräfte gesperrt. Abends beginnt das Wasser trotz doppelter Sandsackbarriere in unsere Tiefgarage zu laufen.
Mittwoch, 5. 6. 2013
Torsten weckt mich, aufgeregt, unser Boot ist weg. Die
Tiefgarage ist bis oben voll Wasser gelaufen.Nach einer kurzen Suchaktion
finden wir das Boot, ein paar von uns haben es aufs Trockene gezogen, als die
Garage sich geflutet hat. Wir unternehmen eine kleine Bootstour zu den Häusern
außerhalb vom Gut und besichtigen die früheren Hochwassermarken. Der
Wasserstand ist jetzt über 8 m, immer
noch steigend. Um den Gimritzer Damm wird weiter gekämpft. Schulen und
Kindergärten sind geschlossen, die Händelfestspiele wurden abgesagt. Das
Multimediazentrum, das Lührmann-Möbelhaus und die Saale-Klinik sollen im Wasser
stehen, auch die Energieversorgung und das MDR-Funkhaus kämpfen mit dem Wasser.
Am Nachmittag beginnt die freiwillige Evakuierung der Neustadt. Der Damm
beginnt durchzuweichen, kann aber weiter gehalten werden. Irgendwann mittags
wird der Höchststand erreicht, es sollen 8,11 m sein. Bis zum Abend ist das
Wasser um 20 cm gesunken.
Bei uns werden weitere Vorräte verbraucht: Nudelsuppe mit
Hackfleisch zum Mittagessen und gegrillter Fisch mit Tomaten-Paprika-Gemüse am
Abend. Das härteste Brot wird zuerst gegessen, es darf nichts verschwendet
werden. Abends bauen die Männer eine Dusche: aus Regentonne, Klettergerüst und
Gartensprenger. Durch Tücher wird das Saalewasser gefiltert und in die Tonne
gefüllt. Ein paar Handys können mit einem Auto-Adapter aufgeladen werden, so
dass wir Kontakt nach draußen haben. Ich habe ein prepaid-Handy und telefoniere
nur mit Hannes.
Nachts im Dunkeln erscheinen ein paar Leute am Tor: nach dem
ersten Schrecken outen sie sich als Mitarbeiter der Wasserwacht, die auf
Anweisung des Oberbürgermeisters nach dem Rechten schauen sollten. Wegen
ausgeschalteter Handys konnte er uns nicht erreichen.
Eindrücke von unserer Bootstour um das Gut. Das Wasser steht bei ca. 8 m.
Unsere Keller-Außentür beim Pegel-Höchststand
Schneckenfloß
Unsere Terrasse unter dem Balkon war längst abgetrieben. Bei unserer Bootstour finden wir sie: Sie hat das Gut einmal umkreist, so dass wir sie durch das Tor bergen können.
:
Das ist unsere Hilfs-Dusche
Donnerstag, 6. 6. 2013
Das Wasser sinkt, aber langsamer als erhofft. Mittags sind
es ca. 30 cm unter dem Höchststand. Die Lage in Halle ist weiter angespannt,
auf Gut Gimritz sind die Leute entspannter und besser ausgeschlafen. Zum
Frühstück werden Eier mit frischer Wurst gebraten, die Brotvorräte reichen noch
1-2 Tage. Dann müssen wir Fladenbrot in der Pfanne backen. Mit dem Wasser gehen
wir sparsamer um, zum Abwaschen wird gefiltertes Saalewasser abgekocht.
Brennholz ist noch ausreichend da, aber es soll noch Treibholz eingesammelt
werden. Mittags wird wieder Nudelsuppe und dazu Fischsuppe gekocht, abends
werden Steaks und Würstchen gegrillt, die sich in diversen Tiefkühlschränken
finden. Mehr als wir aufessen können. Die Truhen halten sich schön kalt, fast
alles ist noch gefroren. Samya kocht Omali, ägyptischen Nachtisch.
Am Abend ist das Wasser 65 cm unter den Höchststand
gesunken. Auf dem verbliebenen Beet unterhalb der Mauer in meinem Garten, ca. 5
m², 15 cm über dem Wasserspiegel, piepst und faucht es. Die Maulwürfe haben
Stress miteinander. Abends begegne ich einem Igel, wie schön. Also kein
Schneckenkorn mehr (das schwimmt momentan sowieso in meinem Keller), in Zukunft
kümmert sich der Igel um die Schnecken. Er darf gerne bleiben.
Wir sitzen zusammen und machen einen Notfall- und Krisenplan
für künftige Hochwasser. Andreas verletzt sich mit der Axt beim Holzhacken und
wird von der Wasserschutzpolizei rausgeholt. Sarah erreicht Marie über Facebook
und kann sie über unsere Lage beruhigen.
Freitag, 7. 6. 2013
Das Wasser ist deutlich gesunken, aber immer noch über dem
Höchststand von 2011. Wir beginnen mit dem Aufräumen: alles raus aus den
Kellern und sortieren. Beim Öffnen der Kellertür schwimmt eine geöffnete
Samenpackung „Wildkräuterwiese“ raus, eine breite Spur von Gras- und
Blumensamen schwimmt auf der Saale. Diese Art des Guerilla-Gärtnerns ist mir
neu.
Es wird davor gewarnt, das Wasser aus der Saale zu nutzen,
auch zum Waschen oder Abwaschen. Wir schränken unseren Wasserverbrauch weiter
ein: es wird nur einmal am Tag gekocht und abgewaschen. Dazwischen gibt es
gebackene Käsebrötchen aus der Pfanne und aufgetauten Kuchen aus der
Tiefkühltruhe. Mittags besucht uns die Wasserwacht und bringt ein paar
Getränkeflaschen mit, sie bekommen bei uns Kaffee und Kuchen. Nach vielen
Stunden Einsatz machen sie bei uns 10 min. Pause. Draußen in der Stadt sollen
immer noch chaotische Zustände herrschen, v. a. verkehrsmäßig. Hannes schreibt
per SMS, dass sie heute ins Kino gehen wollen.
Nachmittags stagniert der Wasserstand, es kann nicht
abfließen. Von der Elbe her kommt der Scheitel noch, Bitterfeld wurde
evakuiert,mit Saale und Mulde zusammen strömt das Wasser jetzt Richtung
Magdeburg. Nach dem Abendessen (Gegrilltes aus diversen Tiefkühltruhen,
Tomate-Mozzarella und aufgebackenes Brot aus verschiedenen Küchen) fahren wir
eine Runde mit den Booten durch den Gutspark. In der Nacht bringt Katharina ein
Notstromaggregat vorbei. Wir sitzen noch eine Weile am Feuer, ehe wir schlafen
gehen. Das Wasser ist gut 1m gesunken, es steht noch knöchelhoch in unserem
Keller. Immer noch über dem Höchststand von 2011. Die Kellertür hat sich
verzogen und geht nicht zu, hoffentlich kommen keine Plünderer.
Der Keller ist frei, das Pförtchen auch, der Stand ist unter
7 m gesunken. In der Stadt wird der Katastrophenalarm aufgehoben.
Es ist der fünfte Tag ohne Wasser und Strom. Ich gönne mir
eine 3-Liter-Schüssel voll Wasser zum Waschen, viel ist nicht mehr in der
Badewanne. Toilettenspülwasser können wir nicht mehr von der Kellertreppe aus
schöpfen, sondern müssen ums Haus gehen. Kaffee wird auf einem Gaskocher
gekocht, der in einer der Nachbarswohnungen aufgetaucht ist. Die Männer setzen
das Notstromaggregat in Gang, so dass ein Kühlschrank angeschlossen werden
kann.
Wir räumen den Keller aus und sortieren: trocknen und
waschen oder Sperrmüll. Damit sind wir bis zum Nachmittag beschäftigt und dann
ziemlich geschafft. Unser Keller wird nach dem Hochwasser so aufgeräumt sein
wie noch nie. Der Schaden hält sich in Grenzen, auch die Sauna sieht gut aus.
Das Steuerelement ist trocken geblieben, den Ofen werden wir nach dem Trocknen
vorsichtig ausprobieren.
Am Nachmittag stürzt mit lautem Krachen im Park ein großer
Baum um, er droht auf die Zufahrtsstraße vor der Gutsbrücke zu stürzen.
Notfalls müssen wir ihn provisorisch beseitigen. Abends gibt’s Lammragout und
Couscous. Morgen früh soll der Strom angeschaltet werden. Die Männer müssen
vorher die EVH-Mitarbeiter zum Peißnitzhaus paddeln und dort abschalten. Mit
dem Strom sollten auch Telefon und Internet wieder da sein. Andreas ist wieder
da, Jens verlässt uns für eine Nacht, das Gut ist wieder erreichbar.
In meinem Garten blüht die erste Rose auf.
In meinem Garten blüht die erste Rose auf.
Das Notstromaggregat wird in Gang gesetzt.
Enten auf der Tiefgarage
Ein Nutria besucht uns
Der umgestürzte Baum
Sonntag, 9. 6. 2013
Früh fahren Torsten und Jörg mit Temba im Jeep zum Gimritzer
Damm, um die EVH-Leute abzuholen. Christian lässt sich im Boot
rausfahren. Wir haben ihn immer nur zum Essen
gesehen, vor dem Abwasch war er immer wieder weg.
Es werden alle Hausanschlussstationen und Verteiler
geprüft,das dauert bis Mittag. Noch vor dem Strom kriegen wir einen Wasserwagen
gebracht. Irgendwo soll ein Rohr geplatzt sein, mit dem Leitungswasser wird es
wohl noch eine Weile dauern. Telefon und Internet funktionieren noch nicht,
aber Licht, Kühlschränke, Herde, Kaffeemaschinen usw. können wieder genutzt
werden. Mit genügend Wasser kann ich heute abend Haare waschen. Ich räume die
Tiefkühltruhe aus, Gemüse können wir am Abend wohl noch nutzen, aus den
restlichen Johannis- und Himbeeren koche ich Rote Grütze. Erstaunlicherweise
sind die Eiswürfel auf dem Grund der Truhe noch gefroren.
Lasse hat sich einen Goldfisch aus Ilonas Teich geangelt,
ich finde die Schuppen in meinem Garten. Nachdem der Akku aufgeladen ist, kann
ich mich telefonisch wieder melden. Nachmittags gibt es ein Gewitter.Ob es wohl
heute abend etwas mit Freiluftkino auf der Tiefgarage wird?
Abends geht mit dem Gewitter ein Platzregen über uns nieder,
jetzt steht das Wasser in Pfützen auch auf der Wiese. Einstimmig beschließen
wir, dass trotzdem gemeinsam gegessen wird – im Stehen unter den Sonnenschirmen
um den Grill. Es gibt zwar kein Freiluftkino, aber es ist der letzte Abend des
„Survival-Camps“, den wollen wir gemeinsam verbringen.Morgen will ich raus in
die Praxis, wie auch immer. Vor dem Schlafengehen hilft mir Torsten beim
Haarewaschen, mit warmgemachtem Wasser aus der Gießkanne.
Unsere Vorräte hätten noch für 4 Wochen Belagerung gereicht. Auf Nudeln, Reis und Konserven mussten wir noch gar nicht zurückgreifen.